26.10.06

Ist das noch Bohème oder schon die Unterschicht?

Das fragt die Band Britta in „Wer wird Millionär“. Die Unterschicht jedenfalls ist wieder da. Und sie scheint weitaus mehr mit der Bohème gemein zu haben als bloß einen überschaubaren finanziellen Spielraum. Letzte Woche wurde in den wie immer lehrreichen Tagesthemen gezeigt, wie sie aussieht, die Avantgarde der Republik.

Ein wichtiges Merkmal der Unterschicht ist den investigativen Fernsehbildern nach zu schließen der Konsum von Flaschenbier in der Öffentlichkeit. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Richtig, das lässige Umherschlendern mit geöffneten Bierflaschen wurde jüngst zum Szenetrend erklärt. Tätowierungen und Piercings sind ebenfalls schon so lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen, dass sie eigentlich schon fast wieder out sind. Als Modeaccessoire bevorzugt der Unterschichtler im Alltag offenbar Sport- und Trainingskleidung – auch das findet seine Entsprechung in der Szene. Allerdings sind die möchtegerncoolen Partygänger in diesem Bereich noch eine gute Dekade im modischen Rückstand: Statt 70er-Jahre-Stil ist bei den wahren Trendsettern in Neukölln & Co. längst 80er- und 90er-Jahre-Joggingoutfit en vogue.

Aber wahrscheinlich können sich die bürgerlichen Nachahmer den Unterschicht-Lebensstil einfach nur nicht leisten. Fastfood, Süßes, Alkohol, Kippen, neueste Glotze, Handytelefonate und tiefergelegte Autos – das ist auf Dauer nicht nur anstrengend und ungesund, sondern kann auch ganz schön ins Geld gehen. Das wiederum beziehungsweise Mangel daran ist offenbar gar kein Kriterium mehr für Unterschichtzugehörigkeit, sondern inzwischen eher Merkmal der Bohème aus Urbanen Pennern und Prekären Praktikanten. Unterschichtler werden sogar manchmal Millionär. Lotto-Lothar drehte mit seinem Gewinn richtig auf, lebte schnell und starb jung. Urbane Pennerinnen dagegen bringen es höchstens zum Sparkolumnisten, in Ausnahmefällen auch mal bis in die Chefetage eines Stadtmagazins. Das reicht dann kaum, um beim aufwändigen Lebensstil der Unterschicht-Avantgarde mitzuhalten.

12.10.06

Want a Free Shoe Shine?

Wie wird man Millionär? Entweder mit Günther Jauch oder durch den Lotto-Jackpot. Ein weiterer klassischer und zudem minimal realistischerer Weg beginnt mit dem Job des Schuhputzers. Der ist hierzulande ganz langsam wieder im Kommen.

Jahrelang gab es in Berlin, mal abgesehen vom Schuhputzservice in Luxushotels, nur noch einen Vertreter dieses Faches: Ahmet Tecimen. Er bietet seine Dienste denn auch in einer Umgebung an, die ebenfalls vor Jahrzehnten zum Stillstand gekommen zu sein scheint – im Erdgeschoss des Europacenters. Einmal professionelle Schuhpflege auf dem traditionellen Thron kostet bei ihm fünf Euro. Seit kurzem ist sein Angebot aber nicht mehr einzigartig in der Stadt. Der ambitionierte Hartz-IV-Startup-Gründer Thomas Ganick putzt für günstige 3,50 Euro „am Fuß“ in der Kreuzberger Axel-Springer-Passage. Bisher allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Angeblich haben hierzulande viele ein Problem damit, die als demütigend empfundene urkapitalistische Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Ganick setzt auf den Standortfaktor. Er hofft auf eine Lizenz zum Putzen im neuen Hauptbahnhof.

Womöglich wird sein Warten vergeblich bleiben. Schließlich ist der Hauptbahnhof selbst die größte halbautomatische Schuhputzanlage Berlins. Sparsame Freunde eines gepflegten Shoe Shine brauchen bloß ein paarmal mit den zahllosen Rolltreppen auf und ab zu gondeln. Die seitlich über die gesamte Länge angebrachten D-Flector-Sicherheitsbürsten polieren dabei perfekt das Schuhwerk. Sandalenträger bekommen eine kribbelnde Fußmassage dazu. Auch beim international verpönten linksseitigen Stehen auf der Rolltreppe zwecks Reinigung des linken Schuhs braucht man sich in Berlin ja praktischerweise nicht schlecht zu fühlen, da es hier, einmal auf einer Rolltreppe angekommen, niemand mehr eilig hat. Diese halbautomatische Schuhpflege gibt’s noch immer zum Nulltarif, Bahnsteigkarte nicht erforderlich. Nicht so im Revier von Ahmet Tecimen: Das anachronistische Europacenter hat zwar Rolltreppen, aber ohne D-Flector-Schuhputzbürsten.

www.shoe-care-service.de